Eine Flucht- und Ankommensgeschichte

Heute wollen wir Ihnen Hussein A. vorstellen. Er ist 19 Jahre alt und kommt aus einem Ort nahe Idlib, einer Stadt zwischen Aleppo und Hama – Namen syrischer Städte, die wir nahezu täglich in den Nachrichten hören.
Aufmerksam geworden durch einen Bericht seiner „Patin“ im Freundeskreis der Flüchtlinge will ich mehr über diesen jungen Mann erfahren. Wir verabreden zusammen mit seiner Patin ein Interview. Gespannt bin ich, wer mich erwartet.
Ich lerne einen jungen Mann kennen, der zu Beginn des Interviews noch etwas schüchtern, dann aber sehr offen eine Geschichte erzählt, die fesselt, die mich staunen macht und auch mitfühlen lässt was so ein junger Mensch auf der Suche nach einem Leben in Frieden und Freiheit alles auf sich genommen hat.

In Rutesheim war er Ende Mai 2016 einer der ersten Ankömmlinge im „Camp“, der Gemeinschaftsunterkunft des Landkreises, in der Margarete-Steiff-Strasse.

Hussein erzählt stolz von seiner großen Familie, von 5 Schwestern und 7 Brüdern, von denen zwei jüngere noch zu Hause bei den Eltern leben.
Nach 9 Jahren Schule war eine weitere schulische Ausbildung, wegen des 2011 nach einem Aufstand in Homs gegen den Machthaber al-Assad ausgebrochenen Bürgerkrieges, nicht mehr möglich. Das Schulgebäude selbst wurde militärischer Stützpunkt in der kriegerischen Auseinandersetzung und ist, wie viele andere Gebäude in syrischen Städten inzwischen vollkommen zerstört worden.

Zusammen mit seinem älteren Bruder (20) hat er sich mit 17 Jahren auf den Weg zur etwa 50 km entfernten Grenze zur Türkei gemacht. Auf einsamen Pfaden und einem mehrstündigen Fußmarsch konnte die inzwischen auf mehrere Personen angewachsene Gruppe der Flüchtenden die Grenze unentdeckt überqueren. Nach weiteren 18 Stunden mit Bus und Taxi war Istanbul, das erste Etappenziel erreicht. Hussein fand Arbeit in einer Schneiderei und konnte sich mit dem für einen 14-Stunden-Arbeitstag geringen Lohn, zusammen mit anderen Flüchtlingen eine Wohnung mieten.
Inzwischen erhielten Hussein und sein Bruder Nachricht vom Cousin. Er hatte sich 6 Monate zuvor auf den Weg gemacht und war inzwischen in Deutschland angekommen. Der Entschluss war bald gefasst, auch Hussein und sein Bruder wollten nach Deutschland, aber würde dafür das ersparte Geld reichen ?
Man fand Kontakt zu Schleusern. Von Izmir zur Insel Samos (Griechenland) sollte die weitere Reise gehen. Doch es kam anders als geplant. Das etwa neun Meter lange Schlauchboot wurde auf der Überfahrt von einem Patrouillenboot gestoppt. Vermummte Bewaffnete bedrohten die etwa 50 Passagiere und zerstörten eine Luftkammer des Schlauchbootes. Anschließend fuhr das Patrouillenboot einfach weiter, ohne sich um die Flüchtenden zu kümmern. Am Horizont waren die Lichter von Häusern auf Samos zu erkennen. Einige der Bootsflüchtlinge sprangen in Ihrer Verzweiflung ins Meer und versuchten Samos schwimmend zu erreichen. Aufgrund der Beschädigungen war an eine Weiterfahrt nicht zu denken. Telefonisch wurde die türkische Polizei zu Hilfe gerufen, die das havarierte Boot zurück in die Türkei abgeschleppt hat. Auch zwei weitere Fluchtversuche scheiterten.
Hussein wird wortkarg und ich spüre, dass manche Erlebnisse, weil mit so viel Leid und Emotionen verbunden, auch nach 2 Jahren noch nicht erzählt werden wollen. Nach dem nun dritten gescheiterten Fluchtversuch werden die Flüchtlinge durch die türkische Polizei erkennungsdienstlich behandelt. Eine weitere Flucht – sollte sie erneut scheitern, hätte strafrechtliche Konsequenzen und würde in einem türkischen Gefängnis enden.
Dennoch wagen Hussein und sein Bruder einen weiteren Versuch. Die Überfahrt ist wegen hohen Seegangs schwierig und gefährlich. Das Boot wird von einem griechischen Schiff entdeckt und die Flüchtenden aufgenommen und nach Samos gebracht.
Von dort ging es über das griechische Festland über die Grenze nach Mazedonien. Nach mehreren Stunden im Zug und zu Fuß erreichte die Gruppe die serbische Grenze. Dort wurde die Einreise zunächst verweigert, nach einer Wartezeit von mehreren Tagen aber doch möglich gemacht. In Richtung Ungarn erfolgte die Weiterreise per Taxi. Der Taxifahrer entließ die Fahrgäste dann mit dem Hinweis „…geht in dieser Richtung einfach weiter, ihr kommt dann nach 1-2 km zur ungarischen Grenze.“ Nach mehreren Kilometern Fußmarsch traf Hussein und seine Gruppe auf einen Einheimischen. Der klärte Sie darüber auf, dass es noch etwa 20 km bis zur Grenze seien ! Also weiter marschiert, bis kurz vor der Grenze die Gruppe – inzwischen waren das 20-30 Personen – auf eine Frau traf. Man wurde sich handelseinig: für 10 EUR pro Kopf führte die Frau die Gruppe auf Bahngleisen Richtung Grenze, immer wieder musste sich die Gruppe im Wald verbergen um nicht entdeckt zu werden. Schließlich war es doch geschafft, die Gruppe war in Ungarn. Per Taxi erreichte Hussein dann die ungarische Hauptstadt Budapest. Für den völlig überteuerten Fahrpreis von 200 EUR gab es vom Taxifahrer wenigstens noch den Rat, sich neu einzukleiden „…kauft wenigstens kurze Hosen, damit man euch nicht schon von weitem als Flüchtlinge erkennt“. Von Budapest aus ging es mit einem Kleinbus weiter durch Österreich bis nach Deggendorf in Bayern.
Endlich war man in Sicherheit, doch wohin genau sollte man nun ? Hussein und sein Bruder nahmen telefonisch mit einem weiteren Cousin Kontakt auf, der inzwischen in Norwegen lebte. Auf die Frage, wie sie am einfachsten zu ihm gelangen könnten, empfahl der Cousin mit dem Zug zu reisen. Doch es sollte anders kommen. Die beiden wurden auf dem Weg zum Bahnhof von der Polizei aufgegriffen und zunächst in eine Sporthalle gebracht. Wegen der hohen Anzahl der Flüchtlinge war eine Erfassung und Registrierung erst nach 2 Tagen möglich. Per Sammeltransport ging es dann weiter nach Ellwangen, eine der Erstaufnahmeeinrichtungen in Baden-Württemberg. Die Einrichtung war zu diesem Zeitpunkt, dem damaligen Höhepunkt der Flüchtlingswelle total überfüllt. Dann folgten mehrfache Verlegungen, zunächst nach Sigmaringen, drei Monate später dann nach Leonberg. Von dort dann im Mai 2016 nach Rutesheim. Zu acht bewohnte man einen der Container im „Camp“. Froh und dankbar ist Hussein, dass er mit seinem Bruder zusammenbleiben konnte.

Seit Husseins Ankunft bei uns in Rutesheim ist viel passiert. Über seinen bemerkenswerten „Werdegang“ in den letzten 14 Monaten berichtet seine Patin:
Ich habe Hussein gleich zu Anfang bei „Happy Monday“ Spaziergängen (Anm.: ein vom Freundeskreis initiertes Freizeitangebot) als einen sehr offenen und freundlichen jungen Mann kennengelernt. Er war sehr neugierig, fragte viel und vertraute sich mir schnell an. Wir wurden Freunde.
Mich überraschte seine Bitte, er wolle, wie andere Flüchtlinge, auch noch unbedingt auf die Schule in Leonberg gehen, um in einer VABO-Klasse (Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf ohne Deutschkenntnisse) intensiv Deutsch lernen zu können.
Obwohl ich wusste, dass er eigentlich schon das Aufnahmealter für diese Schule überschritten hatte, ließ er bei mir nicht locker und bohrte so lange bis ich den Kontakt mit dem Rektor suchte. Mit vereinten Kräften haben wir es tatsächlich geschafft. Bereits kurze Zeit später, seit September 2016 geht Hussein mit großem Eifer und erfolgreich in die VABO-Klasse mit den besten Deutschkenntnissen.

Hussein’s Ferienlektüre

Hussein hatte die Aufgabe von der Schule, sich entsprechend seiner Interessen und Neigungen einen Ausbildungsberuf herauszusuchen und sich daraufhin einen Praktikumsplatz in einem Betrieb in dieser Richtung für einen Tag die Woche zu suchen. Dies sollte mit großer Überzeugung der Beruf Automechatroniker sein.
Und, obwohl ich ihm schilderte, dass dies eine anspruchsvolle Ausbildung sei, überredete mich Hussein, ihm bei der Suche eines solchen Praktikumsplatzes zu unterstützen. So kam es, dass er schon kurz darauf ein Praktikum bei einem Autohaus in Rutesheim in der Werkstatt beginnen durfte.
Dort ist man sehr zufrieden mit ihm und stellte ihm ab Herbst 2017 sogar einen Ausbildungsplatz in Aussicht.

Dies war noch alles nicht genug. Hussein hatte noch mehr im Sinn. Er wollte gerne noch ein bisschen Taschengeld verdienen. Er bat mich, ihm zu helfen einen Job zu bekommen um das Wochenblatt austragen zu können. Dies macht er nun einmal in der Woche regelmäßig. Und dies, obwohl dieser kleine Verdienst nun erst einmal bei seinen Leistungen angerechnet wird und er deshalb vom Jobcenter weniger Geld erhält als bisher. Er hat aber bis heute tapfer durchgehalten und wartet geduldig, bis nach einem halben Jahr das hart verdiente Geld nachträglich ausbezahlt wird.

Hussein zeigt bei allem was er tut viel Eigeninitiative. Er ist sehr motiviert, und was noch bemerkenswerter ist, er hat bisher alles richtig gemacht und Durchhaltevermögen und Geduld bewiesen. Das, so finde ich, ist nicht selbstverständlich bei all den Unsicherheiten und Fragezeichen, die einen so jungen geflüchteten Menschen hier in Deutschland gedanklich umtreiben. Stimmungsschwankungen und Launen sind da nicht selten. Da stellen sich immer wieder Fragen wie: “Bin ich hier in Deutschland richtig, mache ich hier alles richtig, gefällt meinen Eltern was ich hier mache, kann ich wirklich hier bleiben?“

Aktuell hat Hussein sein VABO-Jahr erfolgreich abgeschlossen. Obwohl er den zugesagten Ausbildungsplatz im Autohaus im Herbst hätte antreten können, hat er vorgeschlagen erst noch ein weiteres Jahr zur Schule zu gehen um seine Deutschkenntnisse weiter zu verbessern. Schon jetzt hat er die Zusage erhalten, dass er seinen Ausbildungsplatz auch für das nächste Jahr sicher hat. Jetzt, während der Sommerferien hat sich Hussein freiwillig und auf eigene Kosten bei einem Sprachkurs angemeldet um die nächste Klassifizierungsstufe zu erreichen. Jetzt lernt er also 4 Tage in der Woche intensiv deutsch und nach den Sommerferien beginnt wieder die Schule, diesmal in der VAB-Regelstufe.

Wir vom Freundeskreis wünschen Hussein von Herzen eine Zukunft wie er sie sich wünscht. Was er in kurzer Zeit alles auf den Weg gebracht hat, wie engagiert und konsequent er seine Ziele verfolgt, verdient allen Respekt und unsere Anerkennung.

K.B. und R.K.